Bericht der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein
betreffend das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen vom 30. Oktober 1947 sowie die Ergebnisse der Uruguay-Runde des Gatt
1
Vaduz, den 29. März 1994
P
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,
sehr geehrte Frauen Abgeordnete,
sehr geehrte Herren Abgeordnete,
Die Regierung gestattet sich, Ihnen nachstehend den Bericht betreffend das Allgemeine Zoll- und Handelsabkommen vom 30. Oktober 1947 sowie die Ergebnisse der Uruguay-Runde des GATT zur Kenntnisnahme zu unterbreiten.
Die "indirekte Teilnahme" Liechtensteins am Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen vom 30. Oktober 1947, nachstehend "GATT 1947" genannt, beruhte auf der "Liechtenstein-Klausel" im Beitrittsvertrag zwischen der Schweiz und den GATT-Vertragsparteien von 1966. Liechtenstein war über diese "Liechtenstein-Klausel" nicht Vertragspartei des Abkommens.
Ursprünglich konnte aufgrund der vorliegenden Vertragstexte zur Uruguay-Runde des GATT, nachstehend "GATT 1994"
2
genannt
1, davon ausgegangen werden, dass nach Unterzeichnung der Schlussakte zum "GATT 1994" von Mitte April 1994 in Marrakesch bisherige Nicht-Mitglieder des "GATT 1947" noch zwei Jahre Zeit für die Durchführung eines Beitrittsverfahrens zum "GATT 1947" hätten. Seit Mitte Februar 1994 ist bekannt, dass die Konferenz in Marrakesch eine Ministerentscheidung verabschieden wird, wonach nur jene Staaten zu den Unterzeichner- und damit Gründerstaaten der neuen Welthandelsorganisation (WTO) gehören, die vor dem 15. April 1994 Mitglied des "GATT 1947" geworden sind. Nach dem 15. April 1994 ist eine spätere Mitgliedschaft im "GATT 1994" unter den bisher im Rahmen der Uruguay-Runde bereits ausgehandelten Bedingungen nicht mehr möglich, vielmehr hat der entsprechende Staat umfassende Verhandlungen betreffend einen Beitritt zum "GATT 1994" zu gewärtigen. Anders als bei einer "ursprünglichen Mitgliedschaft" gemäss Artikel XI WTO hätte ein Beitritt gemäss Artikel XII WTO daher zur Folge, dass Liechtenstein die Rechte aus dem Abkommen betreffend Dienstleistungen (GATS) und dem Abkommen über das geistige Eigentum (TRIPS-Abkommen) möglicherweise erst einige Jahre nach Inkrafttreten des WTO-Abkommens erwerben könnte. Andererseits haben die Unterzeichnerstaaten der Schlussakte zur Uruguay-Runde ab dem Inkrafttreten des "GATT 1994" (voraussichtlich Mitte 1995) zwei Jahre Zeit, unter den in der jetzigen Verhandlungsphase, welche noch nicht in allen Bereichen definitiv abgeschlossen ist, ausgehandelten Bedingungen Mitglieder der Welthandelsorganisation unter Durchführung des innerstaatlichen Verfahrens zu werden.
3
Auch wenn bei einer Mitgliedschaft der Schweiz gemäss Artikel XI WTO-Abkommen eine einseitig von der Schweiz zu erklärende "Liechtenstein-Klausel" für das "GATT 1994" akzeptiert werden sollte, ist keineswegs sicher, ob eine einseitige Ausdehnung dieser "Liechtenstein-Klausel" auch auf andere Bereiche des WTO-Abkommens, wie das GATS und das TRIPS-Abkommen, von allen anderen WTO-Mitgliedstaaten akzeptiert würde. Im Gegensatz zur "Liechtenstein-Klausel für das GATT 1947" wurde in den Konzessionslisten Liechtensteins für das GATS betont, dass die Schweiz lediglich für Liechtenstein verhandelt und Liechtenstein selbst die volle rechtliche Verantwortung für ' seine Gatts-Verpflichtungen übernimmt. Gegenüber einer einseitig bei der WTO-Mitgliedschaft der Schweiz erklärten "Liechtenstein-Klausel" könnten andere WTO-Mitgliedstaaten geltend machen, dass eine solche "selektive Mitgliedschaft" Liechtensteins mit dem "single package approach" des WTO-Abkommens (d.h. die Bestandteile des WTO-Abkommens sind in ihrer Gesamtheit anzunehmen, eine selektive Auswahl von Abkommen, die ein Staat ratifiziert, ist nicht möglich) nicht vereinbar ist und zu rechtlichen Ungleichgewichten führen kann, weil zum Beispiel Liechtenstein (via Schweiz) fast alle Rechte aus dem GATS geltend machen könnte, ohne selber die institutionellen und prozeduralen GATS-Pflichten zu übernehmen .(zum Beispiel keine Haftung Liechtensteins im Rahmen der WTO-Streitbeilegungsverfahren, keine Übernahme der WTO-Mitgliedschaftspflichten seitens Liechtensteins).
Die rechtliche Unsicherheit, ob bei einer WTO-Mitgliedschaft der Schweiz eine Ausdehnung einer "Liechtenstein-Klausel" über den Bereich des "GATT 1994" hinaus akzeptiert werden wird, und das Eigeninteresse Liechtensteins, sich die Option einer Teilnahme am GATS und am TRIPS-Abkommen offen zu halten, sprechen dafür, auch die
4
Option einer eigenständigen WTO-Mitgliedschaft Liechtensteins zu wahren.
Der Beitritt zum "GATT 1947" ist die notwendige Voraussetzung, dass Liechtenstein sich die Option erhält, im vereinfachten Verfahren dem "GATT 1994" beizutreten, falls es dies wünscht. Die Regierung hat daher im Einvernehmen mit S.D. dem Landesfürsten den Beitritt zum "GATT 1947" am 29. März 1994 beschlossen und dem GATT-Generaldirektor notifiziert. Mit gleichem Datum erfolgte die einseitige Erklärung der Schweiz betreffend den Beitritt Liechtensteins zum "GATT 1947". Mit dem Beitritt zum "GATT 1947" wurde aber noch in keiner Weise eine Entscheidung darüber getroffen, ob und wann Liechtenstein dem "GATT 1994" beitritt. Hierzu wird das innerstaatliche Verfahren zu gegebener Zeit mit dem entsprechenden Bericht und Antrag eingeleitet werden.
Jene Staaten, die dem "GATT 1947" noch vor dem 15. April 1994 beitreten, sind berechtigt, an der Ministerkonferenz in Marrakesch die Schlussakte der Uruguay-Runde zu unterzeichnen. Nur Staaten, welche die Schlussakte an dieser Konferenz unterzeichnen, gelten als Gründungsmitglieder des "GATT 1994". Sie haben dann, wie erwähnt, bei voraussichtlichem Inkrafttreten des "GATT 1994" Mitte 1995 ab jenem Datum zwei Jahre Zeit, Mitglied der WTO zu werden. Die Regierung hat beschlossen, die Schlussakte zur Uruguay-Runde einschliesslich des WTO-Abkommens und ihrer Anhänge in Marrakesch unter Vorbehalt der Ratifikation zu unterzeichnen.
Gemäss Artikel 8 Absatz 2 der Verfassung bedürfen Staatsverträge, durch die Staatsgebiet abgetreten oder Staatseigentum veräussert, über Staatshoheitsrechte oder Staatsregale verfügt, eine neue Last auf das Fürstentum
5
Liechtenstein oder seine Angehörigen übernommen oder eine Verpflichtung, durch die den Rechten der Landesangehörigen Eintrag getan würde, eingegangen werden soll, zu ihrer Gültigkeit der Zustimmung des Landtages. Der Beitritt Liechtensteins zum "GATT 1947", welches über die "Liechtenstein-Klausel" bzw. den Zollvertrag schon bisher auf Liechtenstein anwendbar war, fällt nicht unter diese Verfassungsbestimmung. Es entstehen für Liechtenstein keine zusätzlichen Pflichten und insbesondere keine finanziellen und personellen Mehrbelastungen (siehe Kapitel 1.2) .
| |
1 | Die Hauptergebnisse der Uruguay-Runde sind das Abkommen zur Errichtung der Welthandelsorganisation (WTO) und die verschiedenen Anhänge zu diesem Abkommen. In diesem Bericht wird vereinfachend und zur besseren Übersicht von "GATT 1994" gesprochen. |
| |