Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein
betreffend die Abänderung des Rechtshilfegesetzes (Europäische Staatsanwaltschaft)
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Rechtshilfe in Strafsachen umfasst grundsätzlich die zwischenstaatliche Zusammenarbeit. Dabei führt ein Staat ein Strafverfahren, der andere Staat unterstützt selbiges mit eigenen Handlungen. Dahinter steht das klassische Konzept, dass Strafrecht als Element der staatlichen Souveränität ausschliessliche Sache der Staaten ist.
Mit der Schaffung der Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) wurde mit Verordnung (EU) 2017/1939 eine unabhängige Stelle der Europäischen Union (EU) geschaffen, die für die strafrechtliche Untersuchung und Verfolgung sowie die Anklageerhebung in Bezug auf Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU zuständig ist. Rechtshilfe an die EUStA stellt somit keine zwischenstaatliche Rechtshilfe dar, sondern staatliche Rechtshilfe an eine Institution einer supranationalen Organisation.
In Art. 50 des Rechtshilfegesetzes (RHG) werden die ausländischen Behörden, welchen durch liechtensteinische Behörden Rechtshilfe in Strafsachen geleistet werden kann, einschränkend definiert als "ein Gericht, eine Staatsanwaltschaft oder eine in Angelegenheiten des Straf- oder Massnahmenvollzuges tätige Behörde". Diese Bestimmung ging im Zeitpunkt ihres Entstehens von einem ausschliesslich zwischenstaatlichen Ansatz der Rechtshilfe aus. Ebenso Art. 71 RHG, wonach von liechtensteinischen Behörden ausgehende Rechtshilfeersuchen an "das ausländische Gericht, die ausländische Staatsanwaltschaft oder die im Straf- oder Massnahmenvollzug tätige Behörde" ergehen können.
Durch die gegenständliche Einfügung eines neuen Art. 50 Abs. 2a und Art. 71 Abs. 1a RHG wird definiert, dass auch die EUStA eine ausländische Behörde bzw. ausländische Staatsanwaltschaft im Sinne des Art. 50 Abs. 1 bzw. Art. 71 Abs. 1 RHG darstellt. Damit wird einerseits die ansonsten notwendige Auslegung des Begriffs der "ausländischen Behörde" bzw. "ausländische Staatsanwaltschaft" vermieden und damit Rechtssicherheit geschaffen. Andererseits wird dem eminenten öffentlichen Interesse an einer effektiven grenzüberschreitenden Strafverfolgung auch in Zusammenarbeit mit der EUStA Genüge getan.
Mit der gegenständlichen Vorlage werden keine zusätzlichen Verpflichtungen oder weitere Formen der Zusammenarbeit begründet. Es wird lediglich ermöglicht, dass
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bestehende Regeln für die Rechtshilfe in Strafsachen auch auf die EUStA angewendet werden. Gleichermassen erhält Liechtenstein für seine nationalen Verfahren Zugang zu den von der EUStA gesammelten Beweismitteln, wie Zeugenaussagen, Gegenstände oder Dokumente.
Zuständiges Ministerium
Ministerium für Infrastruktur und Justiz
Betroffene Stellen
Landgericht
Obergericht
Oberster Gerichtshof
Staatsgerichtshof
Staatsanwaltschaft
Landespolizei
Amt für Justiz
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Vaduz, 27. Juni 2023
LNR 2023-942
P
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,
Sehr geehrte Frauen und Herren Abgeordnete
Die Regierung gestattet sich, dem Hohen Landtag nachstehenden Bericht und Antrag betreffend die Abänderung des Rechtshilfegesetzes zu unterbreiten.
Rechtshilfe in Strafsachen ist eine Form der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit. Der eine Staat führt ein Strafverfahren, der andere Staat unterstützt selbiges mit eigenen Handlungen. Dahinter steht das Konzept, dass Strafrecht als Element der staatlichen Souveränität ausschliessliche Sache der Staaten ist. Dieses Prinzip spiegelt sich auch in den bi- oder multilateralen zwischenstaatlichen Vereinbarungen im Bereich der Rechtshilfe
1 wider, wo regelmässig auf die Zusammenarbeit zwischen Staaten als Vertragsparteien verwiesen wird.
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Als in den 1990er Jahren die UNO die beiden ad-hoc-Straftribunale für ex-Jugoslawien
2 und Ruanda
3 schuf und ausserhalb der UNO im Jahr 2002 der internationale Strafgerichtshof
4 geschaffen wurde, waren die Staaten nunmehr mit der Möglichkeit von Rechtshilfeersuchen eines nicht-nationalstaatlichen Akteurs konfrontiert. Der liechtensteinische Gesetzgeber hiess den Beitritt Liechtensteins zum Römer Statut
5 und damit zum Internationalen Strafgerichtshof gut und erliess in der Folge das Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof und anderen internationalen Gerichten (ZIGG)
6, welches auch die Zusammenarbeit mit den genannten UNO-Tribunalen und allfälligen künftigen UNO-Tribunalen umfasst.
Bei der Zusammenarbeit zwischen einem Mitgliedstaat und dem Internationalen Strafgerichtshof handelt es sich nicht um Rechtshilfe im eigentlichen Sinne, sondern um eine Unterstützungsleistung zugunsten eines Gerichtshofs, der seine Legitimation aus einer Souveränitätsdelegation seiner Mitgliedstaaten erlangt. Im Rahmen dieser Souveränitätsdelegation haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, uneingeschränkt mit dem Gerichtshof zu kooperieren. Daraus ergibt sich die Sonderkonstellation einer Kooperationspflicht, die im Grundsatz derjenigen der Zusammenarbeit mit nationalen Gerichten entspricht.
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Das Rechtshilfegesetz (RHG)
7 regelt - soweit in zwischenstaatlichen Vereinbarungen nichts anderes geregelt ist - die Leistung zwischenstaatlicher internationaler Rechtshilfe in Strafsachen durch die liechtensteinischen Gerichte und die liechtensteinische Staatsanwaltschaft. Diese Regelung umfasst sowohl die Leistung von Rechtshilfe aufgrund ausländischer Ersuchen, als auch das Ersuchen um Leistung von Rechtshilfe an das Ausland. Das Rechtshilfegesetz geht dabei vom klassischen Konzept der zwischenstaatlichen Rechtshilfe aus.
Gemäss Art. 50 Abs. 1 RHG wird Rechtshilfe auf Ersuchen einer "ausländischen Behörde" geleistet. In Abs. 2 wird sodann eine "Behörde" im Sinne des Abs. 1 als ein "Gericht, eine Staatsanwaltschaft oder eine in Angelegenheiten des Straf- oder Massnahmenvollzuges tätige Behörde" definiert.
Durch die taxative Aufzählung der für ein Ersuchen zulässigen ausländischen Behörden in Art. 50 Abs. 2 RHG kommt es zu einer Einschränkung des Bereichs der Rechtshilfe. Die ersuchenden Behörden müssen entweder Gerichte, Staatsanwaltschaften oder in Angelegenheiten des Straf- oder Massnahmenvollzuges tätige Behörden sein. Bei der Beurteilung, ob die ersuchende ausländische Behörde funktional einem Gericht, einer Staatsanwaltschaft oder einer in Angelegenheiten des Straf- oder Massnahmenvollzuges tätigen Behörde gleichsteht, ist der im Auslieferungs- und Rechtshilferecht allgemein geltende Grundsatz der sinngemässen Umstellung des Sachverhalts zu beachten, wonach der zu prüfende Sachverhalt so zu beurteilen ist, als wäre er im Inland verwirklicht worden. Bei Ersuchen von ausländischen Polizeibehörden kommt es regelmässig darauf an, ob ein Strafverfahren nach ausländischem Recht bereits eingeleitet ist und die Polizeibehörde im
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Auftrag von Gericht oder Staatsanwaltschaft tätig wird.
8 Die Amtshilfe im polizeilichen Bereich regelt das Polizeigesetz (PolG)
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10Analog regelt Art. 71 RHG das Stellen von Rechtshilfeersuchen von liechtensteinischen Strafverfolgungsbehörden an das Ausland. Ersuchen um Rechtshilfe sind auf dem vorgesehenen Weg an "das ausländische Gericht, die ausländische Staatsanwaltschaft oder die im Straf- oder Massnahmenvollzug tätige Behörde zu richten, in deren Sprengel die Rechtshilfehandlung vorgenommen werden soll". Auch hier besteht dieselbe Einschränkung wie bei Art. 50.
Nach geltender Rechtslage ist somit für die Beantwortung der Frage, ob es sich im Zweifelsfall bei der um Rechtshilfe ersuchenden oder angesuchten ausländischen Behörde um ein Gericht, eine Staatsanwaltschaft oder eine in Angelegenheiten des Straf- oder Massnahmenvollzuges tätige Behörde handelt, eine Interpretation in der Form einer Prüfung durch Gesetzesauslegung notwendig. Solche Auslegungen sind - solange sie nicht gerichtlich ausjudiziert sind - mit Rechtsunsicherheit behaftet.
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1 | Als Beispiele seien das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. April 1959, LGBl. 1970 Nr. 30, LR 0.351.1, und das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, LGBl. 1970 Nr. 29, LR 0.353.1, genannt. |
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2 | Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, umgangssprachlich häufig auch UN-Kriegsverbrechertribunal oder Haager Tribunal genannt, war ein von 1993 bis 2017 bestehender Ad-hoc-Strafgerichtshof mit Sitz im niederländischen Den Haag. Er war für die Verfolgung schwerer Verbrechen zuständig, die seit 1991 in den Jugoslawienkriegen begangen wurden. |
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3 | Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda war ein durch die Resolution 955 des UN-Sicherheitsrats vom 8. November 1994 geschaffener Ad-hoc-Strafgerichtshof, der den Völkermord in Ruanda 1994 strafrechtlich aufarbeiten sollte. |
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4 | Der Internationale Strafgerichtshof ist ein ständiges internationales Strafgericht mit Sitz in Den Haag ausserhalb der UNO. Seine Zuständigkeit umfasst die vier Kernverbrechen des Völkerstrafrechts, nämlich Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbrechen der Aggression und Kriegsverbrechen, soweit sie nach seiner Gründung begangen wurden. |
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5 | Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs vom 17. Juli 1998, LGBl. 202 Nr. 90, LR 0.312.1. |
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6 | Gesetz vom 20. Oktober 2004 über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Strafgerichtshof und anderen Internationalen Gerichten (ZIGG), LGBl. 2004 Nr. 268, LR 352. |
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7 | Gesetz vom 15. September 2000 über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (Rechtshilfegesetz, RHG), LGBl. 2000 Nr. 215, LR 351. |
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8 | Für eine detaillierte Darstellung siehe Hirn in Handbuch Liechtensteinisches Strafprozessrecht inklusive Rechtshilfeverfahren, Manz, 2021 Wien, Kapitel 25 Kleine bzw. sonstige Rechtshilfe, S. 981 ff. |
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9 | Gesetz vom 21. Juni 1989 über die Landespolizei (Polizeigesetz; PolG), LGBl. 1989 Nr. 48, LR 143.0. |
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10 | Vgl. Martetschläger in Höpfel/Ratz, WK2 ARHG § 50 (Stand 2.5.2019, rdb.at). |
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