Berichte und Anträge
Regierungskanzlei (RK)
BuA - Nummer
2020 / 91
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Ein­lei­tung
I.Bericht der Regierung
1.Aus­gangs­lage
2.Begrün­dung der Vorlage
3.Schwer­punkte der Vorlage
4.Aus­wir­kungen auf Ver­wal­tungstä­tig­keit und Ressourceneinsatz
II.Antrag der Regierung
III.Regie­rungs­vor­lage
 
Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein
betreffend die Genehmigung eines Verpflichtungskredits für die Staatenbeschwerde des Fürstentums Liechtenstein gegen die Tschechische Republik beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte 
 
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Am 18. August 2020 hat die Regierung beschlossen, eine Staatenbeschwerde gegen die Tschechische Republik beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg zu erheben. Die Beschwerde wurde am 19. August 2020 eingereicht. Die Regierung sieht die Souveränität Liechtensteins in Tschechien derzeit als nicht ausreichend respektiert an. Bis heute werden liechtensteinischen Staatsbürgern durch tschechische Behörden und Gerichte Eigentumsrechte vorenthalten bzw. entzogen, indem diese unter falscher Anwendung tschechoslowakischer Präsidialkrete von 1945 als Personen deutscher Nationalität eingestuft werden. In einem Urteil vom 20. Februar 2020 stützte das tschechische Verfassungsgericht diese inakzeptable Vorgehensweise. Die fortbestehende falsche Anwendung der präsidialen Dekrete entspricht einer offensichtlichen Missachtung der Souveränität Liechtensteins und verletzt elementare Grundrechte der betroffenen liechtensteinischen Staatsbürger.
Den Respekt für die uneingeschränkte Souveränität Liechtensteins und elementare Grundrechte der Staatsbürger kann nur der Staat selbst einfordern. Die Regierung erachtet eine Staatenbeschwerde gegen die Tschechische Republik beim EGMR als geeignetes Instrument dafür. Mit der Staatenbeschwerde setzt sie sich für die Interessen und Rechte der betroffenen liechtensteinischen Staatsbürger ein - genauso wie sie sich für liechtensteinische Unternehmen im Ausland einsetzt, wenn diese diskriminiert werden. Die Regierung ist überzeugt, dass die Staatenbeschwerde Aussicht auf Erfolg hat.
Die Regierung sieht sich zu diesem Schritt auch deshalb veranlasst, weil es bis heute nicht gelungen ist, mit der Tschechischen Republik eine Verhandlungslösung für die offenen vermögensrechtlichen Fragen zu finden. Die Tschechische Republik zeigt keine Bereitschaft zu Verhandlungen über die offenen Fragen. Mit der Schweiz und Österreich schloss sie demgegenüber entsprechende Abkommen ab.
Für das Verfahren der Staatenbeschwerde, das mehrere Jahre dauert, beantragt die Regierung daher einen Verpflichtungskredit in Höhe von 1'220'000 Franken. Der grösste Teil dieser Kosten entfällt auf die juristischen Arbeiten bzw. die Arbeiten des Rechtsteams. Die Erarbeitung der Staatenbeschwerde erforderte spezifi-
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sche Expertise, insbesondere zur Rechtsprechung des EGMR und zur Rechtsprechung in der Tschechischen Republik.
Da weitere relevante Urteile des tschechischen Verfassungsgerichts, die erst im Mai und Juni 2020 ergingen, abzuwarten waren, konnte der Bericht und Antrag für einen Verpflichtungskredit dem Landtag nicht vor der Einreichung der Staatenbeschwerde vorgelegt werden. Die bis zur Einreichung der Staatenbeschwerde aufgelaufenen Aufwände von 510'000 Franken waren aufgrund des Fristenablaufs für die Einreichung einer Staatenbeschwerde unaufschiebbar und wurden von der Regierung im Rahmen einer Kreditüberschreitung genehmigt.
Zuständiges Ministerium
Ministerium für Äusseres, Justiz und Kultur
Betroffene Stellen
Amt für Auswärtige Angelegenheiten
Ständige Vertretung des Fürstentums Liechtenstein beim Europarat
Liechtensteinische Botschaft in der Tschechischen Republik mit Sitz in Wien
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Vaduz, 1. September 2020
LNR 2020-1252
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Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,
Sehr geehrte Frauen und Herren Abgeordnete
Die Regierung gestattet sich, dem Hohen Landtag nachstehenden Bericht und Antrag betreffend die Genehmigung eines Verpflichtungskredits für die Staatenbeschwerde des Fürstentums Liechtenstein gegen die Tschechische Republik beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu unterbreiten.
1.1Geschichtlicher Abriss
Das Fürstentum Liechtenstein und die Tschechische Republik bzw. das Fürstenhaus und die Böhmischen Länder sind seit über 700 Jahren historisch eng verbunden. Diese einmalige historische Verbindung zwischen Liechtenstein und Tschechien erlebte im 20. Jahrhundert einen Bruch. Kurz nach der Gründung der Tschechoslowakei im Oktober 1918 wurde eine Bodenreform durchgeführt, in der das Fürstenhaus über die Hälfte seiner in Böhmen, Mähren und Schlesien befindlichen Besitzungen durch Verstaatlichung und Zwangsveräusserung verlor. Bereits bei dieser Bodenreform 1918 spielten souveränitätspolitische Fragen eine
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grosse Rolle. Die Tschechoslowakei missachtete die Liechtensteinische Souveränität, was dazu führte, dass alle Bemühungen der liechtensteinischen Regierung und des Fürstenhauses, die Anerkennung der liechtensteinischen Souveränität durch die Tschechoslowakei zu erreichen, fehlschlugen.
Die Tschechoslowakei bestritt in der Zwischenkriegszeit die Eigenstaatlichkeit und die Souveränität Liechtensteins und blockierte liechtensteinische Interessen im Völkerbund. Erst als die Bodenreform 1935 für abgeschlossen erklärt wurde, anerkannte die Tschechoslowakei im Juli 1938 den Staat Liechtenstein und es wurden diplomatische Beziehungen via die Schweiz aufgenommen.
Die nachfolgenden Ereignisse jedoch - das Münchner Abkommen im September 1938, die Zerschlagung der ersten tschechoslowakischen Republik und der Zweite Weltkrieg - führten zu einer faktischen Einstellung der diplomatischen Beziehungen. Nach dem Krieg weigerte sich die Tschechoslowakei, mit Liechtenstein - gleich wie mit der Schweiz - die diplomatischen Beziehungen wieder aufzunehmen, was als mangelnde Respektierung der liechtensteinischen Souveränität zu sehen ist.
Vor dem Krieg war die Tschechoslowakei ein Vielvölkerstaat mit grossen deutschen, slowakischen und ungarischen Minderheiten gewesen. Während des Zweiten Weltkriegs hatte die tschechoslowakische Exil-Regierung um Präsident Edvard Beneš beschlossen, in der Tschechoslowakei gelegenes Eigentum von Personen mit deutscher oder ungarischer Nationalität bzw. entsprechender ethnischer Zugehörigkeit zu beschlagnahmen. Als Personen deutscher oder ungarischer Nationalität angesehen wurde, wer sich bei einer Volkszählung seit dem Jahr 1929 zu einer dieser Nationalitäten bekannt hatte.
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Auf dieser Grundlage wurden nach dem Zweiten Weltkrieg die Vermögenswerte von insgesamt mindestens 39 liechtensteinischen Staatsbürgern1, darunter Staatsoberhaupt Fürst Franz Josef II. und sieben weitere Familienmitglieder des fürstlichen Hauses., auf Basis der Dekrete des Präsidenten (sogenannte Beneš-Dekrete) Nr. 5 und Nr. 12 unter Nationalverwaltung (Zwangsverwaltung) gestellt und konfisziert. Die tschechoslowakischen Behörden behaupteten dabei fälschlicherweise, dass sich der Fürst samt seiner Familie bei einer Volkszählung 1930 zur deutschen Nationalität bekannt hätte. Inzwischen konnte der Zählbogen der Volkszählung 1930 im Prager Nationalarchiv eingesehen werden. Es zeigte sich, dass das Formular einen deutlichen Fehler aufweist. Es war nämlich nicht vom Haushaltsvorstand Prinz Alois unterzeichnet worden, sondern von einem unbekannten Beamten der liechtensteinischen Verwaltung. Diese Erklärung hätte vom Hausvorstand rechtsgültig abgegeben werden müssen und das Formular muss auf Grund des Fehlens dieser Unterschrift als nichtig angesehen werden. Dennoch wurden, basierend auf eben diesem Formular, sämtliche liechtensteinischen Staatsbürger als Deutsche behandelt und fielen somit unter die Beneš-Dekrete.
Liechtensteins Regierung setzte damals sämtliche zur Verfügung stehenden diplomatischen Mittel gegen dieses Vorgehen ein. Fürst Franz Josef II. reichte ausserdem umgehend Beschwerde ein und nutzte sämtliche zur Verfügung stehende rechtliche Mittel. Die Klage wurde bis zum tschechoslowakischen Obersten Verwaltungsgerichtshof geführt. Im Januar 1948 stand das finale Urteil des Obersten Verwaltungsgerichtshofs unmittelbar bevor und eine Kompensationslösung für Liechtenstein schien, auch aufgrund der internen tschechoslowaki-
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schen Zweifel an der Rechtmässigkeit der Enteignungen, greifbar. Das bereits ausformulierte Urteil des Obersten Verwaltungsgerichtshofs wurde jedoch nach dem kommunistischen Putsch in der Tschechoslowakei im Februar 1948 von den neu eigesetzten kommunistischen Richtern umgeschrieben. Im November 1951 fällte der Oberste Verwaltungsgerichtshof sodann ein endgültiges Urteil zu Ungunsten des Fürsten und mittelbar zu Ungunsten der weiteren bereits 1945 enteigneten Bürger Liechtensteins.
Der liechtensteinische Staat, die betroffenen Bürger, wie auch das Fürstenhaus haben die Ansprüche gegenüber dem tschechoslowakischen Staat nie aufgegeben und diese bis heute immer wieder bekräftigt.
Am 8. September 2009 wurden die diplomatischen Beziehungen mit der Tschechischen Republik wieder aufgenommen und gleichzeitig wurde eine unabhängige und paritätisch besetzte Historikerkommission eingesetzt, die beauftragt wurde, die gemeinsame Geschichte einschliesslich der offenen vermögensrechtlichen Fragen aufzuarbeiten. In ihrem umfassenden Bericht, der den Aussenministern der beiden Staaten im Januar 2014 offiziell vorgelegt wurde, hielt die Historikerkommission fest, dass in einigen Fragen weiterhin unterschiedliche Positionen bestehen, welche im Geiste der guten Partnerschaft auf politischer Ebene zu lösen wären.
Seitens Liechtensteins Regierung und des Fürstenhauses wurde stets betont, dass eine Verhandlungslösung zu den offenen vermögensrechtlichen Fragen der zielführendste Weg ist. Bis heute lehnt die tschechische Regierung trotz wiederholter Bemühungen und Angebote von liechtensteinischer Seite Verhandlungen jedoch ab.



 
1Liechtensteinisch-tschechische Beziehungen in Geschichte und Gegenwart, Synthesebericht der Liechtensteinisch-Tschechischen Historikerkommission, Peter Geiger/Tomáš Knoz/Eliška Fucíková/Ondrej Horák/Catherine Horel/Johann Kräftner /Thomas Winkelbauer/Jan Županic, S. 160-162.
 
LR-Systematik
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LGBl-Nummern
2020 / 363
Landtagssitzungen
30. September 2020
Stichwörter
Benes-Dekrete
EGMR-Staatenbeschwerde
Liech­tens­tein vs. Tsche­chi­sche Republik
Sou­ve­rä­nität Liechtensteins
Ver­pflich­tungs­kredit Staatenbeschwerde