Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein
betreffend die Abänderung der Strafprozessordnung, des Strafgesetzbuches, des Jugendgerichtsgesetzes sowie anderer Gesetzes
(Einführung der Diversion im Strafverfahren, Anpassung des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches, Überarbeitung des Jugendgerichtsgesetzes)
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Mit den gegenständlichen Vorlagen soll primär auf der Grundlage der österreichischen Strafprozessnovelle 1999 (seit 1. Jänner 2000 in Kraft) die Diversion im Strafverfahren eingeführt werden. Unter der Sammelbezeichnung Diversion versteht man dabei alle Formen staatlicher Reaktion auf strafbares Verhalten, welche den Verzicht auf die Durchführung eines Strafverfahrens oder die Beendigung eines solchen ohne Schuldspruch und ohne förmliche Sanktionierung sowie ohne unnötige Stigmatisierung des Verdächtigen - jedoch unter der Voraussetzung der Zustimmung des Verdächtigen zur Erbringung bestimmter Leistungen (Geldbusse, Schadensgutmachung, Verantwortungsübernahme gegenüber dem Opfer, gemeinnützige Arbeiten, Therapie etc.) - ermöglichen und zugleich den berechtigten Interessen des Tatopfers effizienter und rascher dienen. Dabei sind vor allem die überaus positiven Erfahrungen in Österreich, welche ursprünglich im Jugendstrafrecht, später dann auch im Erwachsenenstrafrecht zu verzeichnen waren, hervorzuheben. Das vorliegende Diversionskonzept soll eine Rechtsgrundlage für flexible, einzelfallbezogene und wirksame Reaktionen auf strafbares Verhalten des unteren und in Ausnahmefällen mittleren Kriminalitätsbereiches schaffen, die sowohl den Interessen der durch die Straftat verletzten Person als auch spezial- und generalpräventiven Bedürfnissen genügen, ohne dass ein Strafverfahren mit formeller Verurteilung des Täters durchgeführt werden muss.
Da die Einführung der Diversion auch wesentliche Abänderungen des Jugendgerichtsgesetzes zur Folge hat, erscheint es der Regierung zielführend zu sein, daneben weitere Erleichterungen hinsichtlich der Bestrafung sowie verbesserte Verfahrensvorschriften in der Jugendstrafrechtspflege in Anlehnung an das österreichische Jugendgerichtsgesetz 1988 vorzusehen. Im Vordergrund soll dabei der Grundsatz der Spezialprävention stehen. Es handelt sich hierbei einerseits insbesondere um die erweiterte Möglichkeit des Absehens von der Strafe durch die Staatsanwaltschaft, die Aufnahme eines Strafausschliessungsgrundes für die Altersgruppe der 14- und 15jährigen Jugendlichen im Bereich der minder schweren Alltagskriminalität sowie die Herabsetzung des Mindestmasses der für Jugendstraftaten angedrohten zeitlichen Freiheitsstrafen, andererseits um die Erweiterung des Kreises der Vertrauenspersonen sowie den verbesserten Einbezug des Bewährungshelfers. Daneben sollen grösstenteils die besonderen Verfahrensbe-
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stimmungen für Jugendliche auf die Altersgruppe bis zum vollendeten 21. Lebensjahr Anwendung finden.
Schliesslich nimmt die Regierung diese Revision auch zum Anlass, den Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches, soweit dieser nicht ohnehin bereits durch die vergangenen Revisionen überarbeitet wurde, der österreichischen Rechtslage näher anzupassen. Nachdem es sich hauptsächlich um Bestimmungen hinsichtlich der Strafbemessung, der bedingten Strafnachsicht, der bedingten Entlassung sowie der Weisungen und Bewährungshilfe handelt, ist deren gleichzeitige Behandlung mit der Diversion aufgrund des engen Konnexes nahe liegend. Kernstücke dieser Reform sind die Einführung der teilbedingten Strafe, die Erweiterung des Anwendungsbereiches des § 42 StGB sowie die Erleichterungen bei der bedingten Strafnachsicht und im Bereich des Heranwachsendenstrafrechts. Ebenso sind die korrespondierenden Verfahrensvorschriften entsprechend abzuändern.
Zuständiges Ressort
Ressort Justiz
Betroffene Stellen und Institutionen
Staatsanwaltschaft, Landgericht, Landespolizei, Amt für Soziale Dienste,
Gemeinden, Bewährungshilfe Liechtenstein
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Vaduz, 22. November 2005
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Sehr geehrter Herr Landtagspräsident
Sehr geehrte Frauen und Herren Abgeordnete
Die Regierung gestattet sich, dem Hohen Landtag nachstehenden Bericht und Antrag betreffend die Abänderung der Strafprozessordnung, des Strafgesetzbuches, des Jugendgerichtsgesetzes sowie des Bewährungshilfegesetzes und anderer Gesetze (Einführung der Diversion im Strafverfahren, Anpassung des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches, Überarbeitung des Jugendgerichtsgesetzes) zu unterbreiten.
Mit dem Bericht Nr. 69/1997 vom 21. Oktober 1997 (Interpellationsbeantwortung der Regierung an den Landtag betreffend neue Wege in der Prophylaxe und den Schutz vor Suchtproblemen und die Unterbindung des Drogenhandels sowie betreffend die Drogenpolitik der Regierung) hat die Regierung ihre drogenpolitischen Grundsätze dargelegt. Dabei ist deutlich geworden, dass gegenüber dem Konsumenten von illegalen Betäubungsmitteln eher pädagogische oder therapeu-
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tische Massnahmen anstelle von repressiven Massnahmen des Strafrechtes angezeigt sind. Bereits in seiner Sitzung vom 19. November 1997 hat der Landtag ein (ursprünglich als Motion formuliertes) Postulat zur Änderung des Betäubungsmittelgesetzes an die Regierung überwiesen mit dem Auftrag, in Anlehnung an die Entwicklung in der Schweiz eine gesetzliche Regelung auszuarbeiten, welche die ärztliche Abgabe von Heroin an Schwerstsüchtige ermöglicht.
Zur Vorbereitung der erforderlichen Gesetzesrevision wurde mit Regierungsbeschluss vom 30. September 1998 eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die sich folgendermassen zusammensetzte:
Dr. Gerhard Mislik, Landrichter, Vorsitz;
Dr. Anton Mayr, Staatsanwalt;
Dr. Marcus Büchel, Leiter des Amtes für Soziale Dienste und Vorsitzender der Drogenkommission (Ressort Gesundheit und Soziales);
lic. iur. Christian Näscher, Rechtsdienst (Ressort Justiz);
Horst Marxer, Landespolizei (Ressort Inneres).
Nach dem Ausscheiden von Horst Marxer aus dem Polizeidienst wurde dieser durch Jules Hoch, Abteilungsleiter Landespolizei, ersetzt. Im Zuge der Beratungen über die heroinunterstützte Behandlung von Betäubungsmittelabhängigen ist Dr. Oscar Ospelt, Landesphysikus, als weiteres Mitglied dazu gestossen.
Die Arbeitsgruppe Betäubungsmittelgesetz (BMG) hat der Regierung am 17. Februar 2000 einen Bericht vorgelegt, in welchem zunächst die Einführung der Diversion im Strafverfahren vorgeschlagen wurde. Begründet wird diese Vorgehensweise im Wesentlichen damit, dass in einem ersten Schritt den Formen der leichten und mittelschweren Kriminalität, insbesondere der Missbrauch von Betäubungsmitteln und den damit im Zusammenhang stehenden strafbaren Handlungen, mit Massnahmen und Mitteln zu begegnen ist, die sich grundlegend von den
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bisherigen Strafsanktionen unterscheiden und dem immer mehr feststellbaren Wandel im Strafrecht, der treffend mit dem Satz "Das Strafrecht ist schon längst kein Recht des Strafens mehr" umschrieben werden kann, Rechnung trägt. Um die Diversion in das bestehende System des liechtensteinischen Strafrechts einfügen zu können, sind allerdings umfassende Gesetzesabänderungen erforderlich, die im Einzelnen eine Abänderung der Strafprozessordnung, des Jugendgerichtsgesetzes und des vom Landtag am 15. September 2000 verabschiedeten Bewährungshilfegesetzes bedingen.
Bereits mit Regierungsbeschluss vom 18. April 1996 hat die Regierung eine Arbeitsgruppe zur Überarbeitung des Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung eingesetzt. Diese Arbeitsgruppe setzte sich zusammen aus:
lic. iur. Alma Willi, Staatsanwältin;
Dr. Lothar Hagen, Landrichter;
Dr. Hanspeter Jehle, Rechtsanwalt (Liecht. Rechtsanwaltskammer);
Dr. Thomas Hasler, Rechtsanwalt (Liecht. Treuhändervereinigung);
Kurt Meier, Landespolizei.
Diese Arbeitsgruppe hat in 13 Sitzungen vom September 1996 bis Juli 1997 das gesamte Strafgesetzbuch überarbeitet und der Regierung am 10. November 1997 einen entsprechenden Bericht vorgelegt.
Der Entwurf der Arbeitsgruppe "Betäubungsmittelgesetz" betreffend die Einführung der Diversion im Strafrecht als auch derjenige der Arbeitsgruppe "Revision StGB/StPO" wurde vom Ressort Justiz, welchem in diesem Bereich die Federführung obliegt, einer eingehenden Überarbeitung unterzogen. Nachdem die Regierung bereits im Vorfeld beschlossen hat, eine Gesamtrevision des Strafgesetzbuches aufgrund des Umfanges und der Komplexität in mehrere Teilnovellen (vgl. die Revisionen betreffend Geldwäscherei- und Korruptionsstrafrecht, Einzie-
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hungsrecht, Sexualstrafrecht) zu untergliedern, soll im Zuge dieser Revision auch der Allgemeine Teil des Strafgesetzbuches auf der Grundlage der aktualisierten österreichischen Rechtslage (mit einigen Ausnahmen) angepasst werden. Mitberücksichtigt wurden zudem die vom österreichischen Parlament verabschiedeten materiellrechtlichen Sonderbestimmungen im Bereich des Heranwachsendenstrafrechts
1, die im Jahre 2001 in Kraft getreten sind. Da die Abänderungen des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches im Wesentlichen Bereiche tangieren, die mit der Strafbemessung, der bedingten Nachsicht und Entlassung, den Weisungen sowie der Bewährungshilfe im Zusammenhang stehen, ist eine gemeinsame Behandlung mit der Diversion aufgrund des engen Konnexes durchaus sinnvoll. In diesem Zusammenhang sind auch die weiteren vorgeschlagenen, von der Diversion nicht direkt betroffenen Bestimmungen des Jugendgerichtgesetzes zu nennen.
Grundsätzlich kann sich die Regierung den vorgeschlagenen Abänderungen der Arbeitsgruppe "BMG" im Bereich der Diversion als auch der Arbeitsgruppe "Revision StGB/StPO" im Bereich des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches anschliessen. Diversionelle Massnahmen eröffnen gerade im Bereich der Betäubungsmitteldelinquenz neue Wege in der Bekämpfung des Betäubungsmittelmissbrauchs. Für die vorgeschlagenen Anpassungen des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches, die sich in Österreich aufgrund der seit 1975 mit dem neuen Strafgesetzbuch gemachten Erfahrungen und der Rechtsprechung aufgedrängt haben und entsprechend insbesondere durch die Strafrechtsänderungsgesetze 1987, 1988 und 1996 umgesetzt wurden, gilt es festzuhalten, dass deren vollständige Übernahme in den liechtensteinischen Rechtsbestand durch die traditionell enge Verbundenheit geboten ist. In einem weiteren Schritt soll dann der - soweit noch
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nicht nachvollzogen - besondere Teil des Strafgesetzbuches einer Revision unterzogen werden.
Das geltende liechtensteinische Recht kennt zwar bereits vereinzelt Möglichkeiten diversionellen Vorgehens wie namentlich in Art. 21 Abs. 2 und Art. 22 BMG, nach welchen in leichten Fällen von einer Strafe abgesehen bzw. der Vollzug einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als fünf Jahren zugunsten einer Therapie aufgeschoben werden kann. Daneben sind auch die im Jugendgerichtsgesetz (z.B. § 3 JGG) und im Jugendgesetz (z.B. Art. 54 JuG, welcher die Aussprache mit Jugendberater oder die gemeinnützigen unentgeltlichen Arbeiten regelt) vorgesehenen erzieherischen Massnahmen, aber auch Weisungen, Auflagen und Ermahnungen zu nennen. Im allgemeinen Strafrecht gilt es § 42 StGB hervorzuheben, der unter den gegebenen Voraussetzungen Straflosigkeit bei geringfügigen strafbaren Handlungen vorsieht; es ist freilich zu beachten, dass es sich hierbei um einen materiellrechtlichen Strafausschliessungsgrund handelt.
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1 | vgl. §§ 36, 46 Abs. 2a, 50 Abs. 1 und 1a öStGB |
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