Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein
betreffend das Übereinkommen über Vergleichs- und Schiedsverfahren der Ksze vom 15. Dezember 1992 und das Finanzprotokoll Nach Art. 13 des Übereinkommens vom 28. April 1993
1
Vaduz, den 8. März 1994
P
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
Die Regierung gestattet sich, Ihnen nachstehend den Bericht und Antrag betreffend das Übereinkommen über Vergleichs- und Schiedsverfahren innerhalb der KSZE vom 15. Dezember 1992 und das Finanzprotokoll nach Artikel 13 des Übereinkommens vom 28. April 1993 zu unterbreiten.
Das Prinzip der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten wird in der Charta der Vereinten Nationen (LBG1. 1990 Nr. 65) an verschiedenen Stellen erwähnt. Im Kapitel I über die Ziele und Grundsätze und im Kapitel VI, welches der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten gewidmet ist, wird es ausdrücklich genannt.
Die gewohnheitsrechtliche Geltung des Prinzips kommt in zahlreichen Resolutionen der Vereinten Nationen sowie in den politisch verbindlichen Dokumenten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit zum Ausdruck.
Heute geht man davon aus, dass das Prinzip der friedlichen Streitbeilegung aus Artikel 2 der UNO-Charta eine aktive Verpflichtung für die Streitparteien beinhaltet. Allerdings bedeutet die Verpflichtung keine Festlegung der streitenden Parteien für die Auswahl der Mittel. Es ist allgemein anerkannt, dass sie sich zur Beilegung ihrer Streitigkeiten der traditionellen, in Artikel 33 der UNO-Charta genannten Mittel (Verhandlung, Untersuchung, Vermittlung, Vergleich, Schiedsspruch, gerichtliche Entscheidung) bedienen, dass aber auch andere friedliche Verfahren zur Anwendung kommen können.
2
Bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts wurde das Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle (Haager Abkommen vom 18. Oktober 1907) abgeschlossen, welchem rund 60 Staaten beigetreten sind und das in der Folge Ausgangspunkt für verschiedene multilaterale Schiedsgerichtsabkommen wurde, weil die Vertragsparteien durch Artikel 38 dieses Abkommens die Schiedsgerichtsbarkeit als das wirksamste und angemessenste Mittel anerkennen, um zwischenstaatliche Rechtsstreitigkeiten (die auf diplomatischem Weg nicht beigelegt werden können) auszutragen. Das Haager Abkommen von 1907 ist Gegenstand eines eigenen Berichts und Antrags an den Landtag.
Seit dem 29. März 1950 anerkennt Liechtenstein die obligatorische Gerichtsbarkeit des Internationalen Gerichtshofes (IGH) in Den Haag (LGB1. 1950 Nr. 6). Seit dem 18. Februar 1980 ist es Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten vom 29. April 1957 (LGBl. 1980 Nr. 61). Dieses Übereinkommen konnte keine grosse Breitenwirkungen entfalten, da es nur von 13 Staaten ratifiziert wurde. Bis heute ist kein allgemein gültiges, internationales Übereinkommen in Kraft, welches den einseitigen Rückgriff auf Streitbeilegungsmittel unter Beizug einer Drittinstanz ermöglichen würde.
Im Rahmen der KSZE warf die Schweiz 1973 die Idee eines gesamteuropäischen Systems der friedlichen Streitbeilegung auf, indem sie einen Entwurf zu einem Übereinkommen in dieser Sache vorlegte. Dieser Vorschlag hätte es jedem in einen Streitfall verwickelten KSZE-Teilnehmerstaat ermöglicht, diesen einer KSZE-Vergleichskommission zu unterbreiten, sollte er politischer Natur sein, oder ihn, sollte es sich um eine rechtliche Streitigkeit handeln, einem KSZE-Schiedsgericht vorzulegen. Der als zu weitgehend beurteilte schweizerische Vorschlag wurde nicht weiterverfolgt. Er wurde jedoch in der Schlussakte von Helsinki vom 1. August 1975 erwähnt, und der Grundsatz der friedlichen Beilegung von Streitigkeiten wurde in den "Dekalog" von Helsinki aufgenommen.
3
Mit Unterstützung der westlichen Staaten sowie der Gruppe der Neutralen und Nichtblockgebundenen (diese Gruppe umfasste Finnland, Jugoslawien, Liechtenstein, Malta, Österreich, San Marino, Schweden die Schweiz und Zypern) kam die Schweiz an den KSZE-Expertentreffen für friedliche Streitbeilegung von Montreux (1978) und Athen (1984) auf ihr Anliegen zurück. Die Vorschläge, welche sie anlässlich dieser Treffen unterbreitete, gingen zwar auf dem Gebiet der Schiedsgerichtsbarkeit weniger weit als der frühere Entwurf, enthielten aber nach wie vor ein einseitig auslösbares Vergleichsverfahren für alle Streitigkeiten, die nicht auf dem Verhandlungswege beigelegt werden konnten. Diese Entwürfe und ähnliche westliche Vorschläge scheiterten am Widerstand der Sowjetunion und ihrer Verbündeten. Sie nahmen Anstoss am Beizug einer Drittinstanz; nur der Verhandlungsweg war für diese Staatengruppe annehmbar.
Mit den seit Mitte der achtziger Jahre in den Ländern Mittel- und Osteuropas eingetretenen Umwälzungen änderte sich die Haltung dieser Staaten gegenüber der friedlichen Streitbeilegung tiefgreifend. Dies ermöglichte es der KSZE, sich an ihrem Wiener Folgetreffen (1986-1989) grundsätzlich für den Beizug einer Drittpartei zur Regelung von auf dem Verhandlungswege bislang ungelösten Konflikten auszusprechen. Gleichzeitig berief sie anfangs 1991 nach La Valletta (Malta) ein Expertentreffen ein mit dem Auftrag, "eine allgemein annehmbare Methode zur friedlichen Regelung von Streitfällen zu prüfen und auszuarbeiten, um bestehende Methoden zu ergänzen".
Anlässlich dieses Treffens legte die Schweiz einen von sieben Miteinbringern (darunter Liechtenstein) unterstützten Vorschlag vor, der ein umfassendes, einseitig abrufbares Vergleichsverfahren, sowie für bestimmte Streitigkeiten rechtlicher Natur ein zwingendes Schiedsverfahren vorsah. Dieser Vorschlag stiess namentlich auf den Widerstand der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs. Den in La Valletta versammelten Experten gelang es immerhin, ein Dokument zu erarbeiten, das gewisse allgemeine Grundsätze festhielt und einen "Verfahren von La Valletta" benannten Mechanismus begründete.
4
Dieser Mechanismus, der gute Dienste mit Elementen der Vermittlung und des Vergleichsverfahrens verbindet, geht auf amerikanische, deutsche und italienische Vorstellungen zurück. Er zielt im wesentlichen darauf ab, die in einem Streitfall verwickelten Staaten zu ermutigen, diesen mit Mitteln ihrer Wahl beizulegen. Wenn eine Streitigkeit auftritt, kann jede Partei die Einsetzung eines "KSZE-Mechanismus" genannten ad hoc-Organs verlangen. Die das Verfahren anrufende Partei bezeichnet einen oder mehrere Schlichter aus einer Liste von Personen, die von den KSZE-Teilnehmerstaaten vorgeschlagen werden. Ein kompliziertes Ernennungs- und Ablehnungsverfahren eröffnet der Gegenpartei gewisse Obstruktionsmöglichkeiten. Wenn der KSZE-Mechanismus eingesetzt worden ist, kann er den Streitparteien "allgemeine oder spezifische Hinweise und Ratschläge" - nicht aber Empfehlungen - über Mittel anbieten, die sie zur Beilegung der Streitigkeiten verwenden könnten. Falls die Parteien sich nicht über den Gebrauch solcher Mittel verständigen, kann der Mechanismus - ohne dazu verpflichtet zu sein - in einer zweiten Phase "Hinweise oder Ratschläge" hinsichtlich der Substanz des Streitfalles erteilen. Dagegen ist er nicht befugt, den Parteien einen mit Empfehlung versehenen Bericht zu unterbreiten, wie es eine Vergleichskommission tun könnte. M.a.W.: Die Tätigkeit des KSZE-Mechanismus führt nicht zwangsläufig zu einem Lösungsvorschlag.
Überdies kennt das Verfahren von La Valletta Ausnahmeklauseln, die seine Tragweite wesentlich einschränken. Ein vor einen KSZE-Mechanismus gezogener Staat kann namentlich behaupten, dass der Streitfall Fragen seiner territorialen Integrität (einschliesslich seiner Grenzen), seiner Hoheitsansprüche auf Landgebiete, seiner Landesverteidigung oder der Abgrenzung von See- oder Lufträumen berührt. Eine solche Behauptung genügt, um das eingeleitete Verfahren zu verhindern oder zu lähmen. Erschwerend wirkt weiterhin die politische Natur des Valletta-Dokuments. Die darin enthaltenen Verpflichtungen sind rechtlich nicht bindend. Ein Staat kann sich also dem insgesamt doch sehr bescheidenen KSZE-Verfahren auch unter dem Vorwand entziehen, dass er rechtlich nicht verpflichtet sei, sich ihm zu unterwerfen.
Aus all diesen Gründen überrascht es nicht, dass das Valletta-Verfahren bisher noch nie angerufen worden ist. Das angestrebte Ziel - die
5
Schaffung einer wirksamen, einseitig auslösbaren und auf möglichst viele Streitfälle zwischen europäischen Staaten anwendbaren Methode -ist demnach nicht erreicht worden.
Angesichts der Mängel des Valletta-Verfahrens und des zunehmenden Bedarfs nach einem genügend wirksamen System der friedlichen Streitbeilegung im gesamteuropäischen Rahmen unterbreiteten Frankreich und Deutschland dem Vierten Folgetreffen der KSZE in Helsinki (1992) einen Entwurf für eine multilaterale Vergleichs- und Schiedskonvention.
Dieser Entwurf stiess auf Kritik verschiedener Teilnehmerstaaten, was Grossbritannien veranlasste, einen Gegenvorschlag in Form eines politischen Dokumentes einzureichen, der ebenfalls ein Vergleichsverfahren vorsah.
Der britische Text enthielt im Gegensatz zum Valletta-Verfahren einen echten Vergleichsmechanismus. Letzterer war indes freiwilliger Natur: Er sollte nur mit dem Einverständnis der Streitparteien auslösbar sein, sei es kraft einer ad hoc getroffenen Vereinbarung, sei es aufgrund von im voraus abgegebenen und übereinstimmenden einseitigen Erklärungen aller Parteien, die den in Frage stehenden Streitfall abdecken. Der britische Vorschlag blieb also in einem wesentlichen Punkt hinter dem Valletta-Dokument zurück, das zumindest im Grundsatz ein obligatorisches Verfahren einführen wollte.
Die Vereinigten Staaten forderten ein "Vergleichsverfahren auf Anordnung". Die politischen Organe der KSZE - der Rat der Aussenminister (KSZE-Rat) und der Ausschuss der Hohen Beamten (AHB) - würden ermächtigt, in einen Streitfall verwickelte KSZE-Staaten auf ein Vergleichsverfahren zu verpflichten, selbst wenn sich diese auf das Gegenteil geeinigt haben sollten. Dies stellte eine eigentliche Neuerung dar: Das Vergleichsverfahren auf Anordnung sollte die europäischen Streitbeilegungsmechanismen in ein System "kollektiver Sicherheit" einbinden.
Die Arbeiten des Vierten Folgetreffens führten zu einem Kompromiss,der in den am 10. Juli 1992 von den Staats- oder Regierungschefs der
6
KSZE-Staaten in Helsinki gefassten Beschlüssen wiedergegeben ist. Darin wurde festgehalten, dass vom 12. bis zum 23. Oktober 1992 (möglicherweise mit einer Verlängerung um zwei Wochen im Monat November) in Genf ein Sondertreffen zum Thema der friedlichen Streitbeilegung stattfinden würde.
Das Genfer Treffen konnte innerhalb der vorhergesehenen zwei Wochen am 23. Oktober 1992 zum Abschluss gebracht werden. Dessen Ergebnisse wurden zusammengefasst in einem an den KSZE-Rat zur Genehmigung überwiesenen "Beschlussentwurf", der vier Beilagen enthielt: 1. ein auf einem gemeinsamen Vorschlag der Schweiz und der Vereinigten Staaten fussender Text, der das Verfahren von La Valletta durch eine Vereinfachung des Bestellungsverfahrens für den KSZE-Mechanismus verbessert; 2. ein politisches Dokument, das auf der Grundlage des britischen Vorschlages ein fakultatives Vergleichsverfahren einführt; 3. ein weiteres politisches Dokument, welches das von den Vereinigten Staaten vorgeschlagene Vergleichsverfahren auf Anordnung vorsieht; 4. das Übereinkommen über Vergleichs- und Schiedsverfahren innerhalb der KSZE, wie es aus dem französisch-deutschen Vorschlag hervorging.
Damit ist es nach fast zwei Jahrzehnte dauernden Bemühungen im Rahmen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) dank der veränderten politischen Lage in Europa gelungen, am 23. Oktober 1992 ein Übereinkommen zu einem europäischen Mechanismus für die friedliche Streitbeilegung abzuschliessen. Der KSZE-Rat (Ebene der Aussenminister) billigte das Abkommen am 15. Dezember 1992. Anschliessend erfolgte die Unterzeichnung durch 33 KSZE-Teilnehmerstaaten, darunter Liechtenstein. Genf wurde nun zum Sitz des Gerichtshofs bestimmt. Vom Ausschuss Hoher Beamten der KSZE wurde anschliessend ein Finanzprotokoll ausgearbeitet und am 28. April 1993 verabschiedet. Dieses Protokoll ist ebenfalls Gegenstand des vorliegenden Berichts und Antrags. Das Übereinkommen und das Finanzprotokoll sind bisher von 6 Staaten (Frankreich, Monaco, Kroatien, Schweden, Polen, Schweiz) ratifiziert worden. Zu ihrem Inkrafttreten ist die Ratifikation durch 12 Staaten erforderlich.