Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein
betreffend die Abänderung der Strafprozessordnung (Opferschutz)
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Der vorliegende Bericht und Antrag befasst sich mit einer Abänderung der Strafprozessordnung (StPO). Ziel dieser Teilrevision ist die Gewährleistung eines verbesserten Opferschutzes im Strafverfahren.
Ursprünglich unter einem mit der Abänderung des Sexualstrafrechts geplant, kann die Vorlage nunmehr als Mittelstück eines dreiteiligen Gesamtprojekts angesehen werden, das mit der Abänderung des Sexualstrafrechts begonnen hat und mit der Schaffung eines liechtensteinischen Opferhilfegesetzes seinen Abschluss finden soll.
Ähnlich wie nach dem schweizerischen Entwurf zur Totalrevision des Opferhilfegesetzes sollen auch in Liechtenstein die strafprozessualen Opferrechte grundsätzlich in der Strafprozessordnung, die (sonstigen) Opferhilfebestimmungen jedoch in dem neu zu schaffenden liechtensteinischen Opferhilfegesetz konzentriert werden. Hingegen enthält das geltende schweizerische Opferhilfegesetz neben Beratung auf der einen Seite sowie Entschädigung und Genugtuung auf der anderen Seite als weitere "Säule" derzeit auch noch Opferschutzbestimmungen für das Strafverfahren.
Inhaltlich orientieren sich die vorgeschlagenen Änderungen am österreichischen Strafverfahrensrecht (öStPO). Im Wesentlichen sollen die seit der Einführung der geltenden liechtensteinischen StPO im Jahr 1988 (noch) nicht übernommene Änderungen der österreichischen StPO im Bereich des Opferschutzes nachvollzogen werden. Berücksichtigt werden aber auch europarechtliche Initiativen, insbesondere der Rahmenbeschluss des Rates über die Stellung des Opfers im Strafverfahren.
Eine Kernbestimmung der gegenständlichen Regierungsvorlage (RV) ist die schonende ZeugInneneinvernahme (§ 115a RV). Danach soll der Untersuchungsrich-
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ter/die Untersuchungsrichterin die Gelegenheit zur Beteiligung an der (kontradiktorischen) Einvernahme derart beschränken können, dass die Parteien und ihre VertreterInnen die Vernehmung der ZeugInnen zur Vermeidung von Konfrontationen zwischen Opfern und Verdächtigen räumlich getrennt unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung mitverfolgen und ihr Fragerecht auf diese Weise ausüben können. Dadurch können dem Opfer direkte Konfrontationen erspart und zusätzliche belastende Spannungssituationen vermieden werden. Bei jugendlichen (d.h. noch nicht sechzehnjährigen) Opfern von Sexualdelikten hat dies zwingend zu geschehen, ansonsten auf entsprechenden Antrag.
Mit dieser Neuerung korrespondieren einerseits die Einführung der schonenden Einvernahme in der Schlussverhandlung (§ 197 Abs. 3 RV) und andererseits die Ausdehnung der Entschlagungsrechte. So sollen künftig jugendliche Opfer sowie sämtliche Personen (auch Erwachsene), die durch die dem/der Beschuldigten zur Last gelegten strafbaren Handlung in ihrer Geschlechtssphäre verletzt worden sein könnten, ihre Aussage in der Schlussverhandlung verweigern können, sofern die Parteien jeweils Gelegenheit hatten, sich an einer vorausgegangenen gerichtlichen Vernehmung zu beteiligen (§ 107 Abs. 1 Ziff. 1b und 1c RV). Dadurch soll erreicht werden, dass besonders schutzbedürftige Opfer vom Gericht nur ein Mal zur Tathandlung einvernommen werden müssen und so bestmöglich geschont werden.
Diese Entschlagungsrechte bedingen wiederum eine Neuregelung der Verlesungsvorschriften in der Schlussverhandlung (§ 198a RV), die insgesamt aus dem österreichischen Rechtsbestand übernommen werden sollen.
Weitere Vorschläge im Interesse des Opferschutzes betreffen die Einführung des relativen Zeugnisverweigerungsrechts für Personen, die durch eine strafbare Handlung in ihrer Geschlechtssphäre verletzt worden sind (§ 108 Abs. 2 RV), die Einführung des Zeugenbeistands (§ 115 RV), die Neuregelung des Ausschlusses
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der Öffentlichkeit, insbesondere auch die detaillierten Regelungen über die Unzulässigkeit von Fernseh-, Hörfunk-, Film- und Fotoaufnahmen (§181 ff RV), die Bestimmungen über die zeugenschaftlichen Angaben zur Person (vor allem § 119a RV) und auch eine gewisse Einschränkung der behördlichen Anzeigepflicht nach § 53 StPO, damit nicht dem Opferinteresse besser dienende psychosoziale Interventionen durch sofortige Strafverfolgung konterkariert werden.
Das verfahrensrechtliche Schutzalter für jugendliche Opfer wird unter Berücksichtigung entsprechender internationaler Bestrebungen und dahingehender Vernehmlassungsäusserungen anders als ursprünglich vorgesehen nicht bei 14 sondern bei 16 Jahren liegen.
Zuständiges Ressort
Ressort Justiz
Betroffene Amtsstellen
Staatsanwaltschaft, Gerichte, Landespolizei
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Vaduz, 9. März 2004
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Sehr geehrter Herr Landtagspräsident
Sehr geehrte Frauen und Herren Abgeordnete
Die Regierung gestattet sich, dem Hohen Landtag nachstehenden Bericht und Antrag betreffend die Abänderung der Strafprozessordnung (Opferschutz) zu unterbreiten.
Die geltende liechtensteinische Strafprozessordnung (StPO, LGBl. 1988 Nr. 62) wurde nach mehrjährigen Reformarbeiten am 18. Oktober 1988 vom Landtag verabschiedet. Seit dem In-Kraft-Treten am 1. Jänner 1989 wurde sie einige Male partiell abgeändert, diese Abänderungen betrafen jedoch nicht den Bereich des Opferschutzes.
Als Rezeptionsgrundlage für das liechtensteinische Gesetz diente die österreichische Strafprozessordnung 1975, BGBl. Nr. 631/1975. Die österreichische Strafprozessordnung wurde seit der Wiederverlautbarung keiner Gesamtrevision unterzogen, doch erfolgten in mehreren Schritten teils grosse Novellierungen.
Aus der Vielzahl der Abänderungen der österreichischen Strafprozessordnung ist ersichtlich, dass eine Totalrevision der Strafprozessordnung nur mit sehr grossem Aufwand, vor allem hinsichtlich der zeitlichen Vorgaben, denkbar wäre. Es emp-
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fiehlt sich daher, schwerpunktmässig die für Liechtenstein bedeutsamen Novellen in der Rezeptionsgrundlage zu übernehmen.
Im Bereich des Opferschutzes waren als einschlägige Änderungen der österreichischen Strafprozessordnung folgende zu beachten:
(öst.) Strafrechtsänderungsgesetz 1987, BGBl. Nr. 605/1987 - StRÄG 1987;
(öst.) Strafprozessänderungsgesetz 1993, BGBl. Nr. 526/1993 - StPÄG 1993;
(öst.) Strafrechtsänderungsgesetz 1996, BGBl. Nr. 762/1996 - StRÄG 1996;
(öst.) Bundesgesetz über "besondere Ermittlungsmassnahmen" - BGBl. I Nr. 105/1997;
(öst.) Strafrechtsänderungsgesetz 1998, BGBl. I Nr. 153/1998 - StRÄG 1998;
(öst.) Strafprozessnovelle 1999, BGBl. I Nr. 55/1999 - StPO-Nov 1999;
(öst.) Eherechts-Änderungsgesetz 1999, BGBl. I Nr. 125/1999 - EheRÄG 1999;
(öst.) Strafprozessnovelle 2000, BGBl. I Nr. 108/2000 - StPO-Nov 2000;
(öst.) Bundesgesetz, mit dem das Strafvollzugsgesetz, die Strafprozessordnung 1975, das Finanzstrafgesetz und das Verwaltungsstrafgesetz 1991 geändert werden - BGBl. I Nr. 138/2000.
Mit der gegenständlichen Vorlage sollen diese österreichischen Neuerungen vor allem im Bereich des Opferschutzes in der liechtensteinischen Strafprozessordnung nachvollzogen, teilweise aber auch in Österreich bevorstehende Änderungen vorweggenommen werden. Dabei handelt es sich um das am 26. Februar 2004 vom Nationalrat beschlossene (österreichische) Strafprozessreformgesetz, das am 1. Januar 2008 in Kraft treten soll (25 der Beilagen zu den Stenographischen Protokollen des Nationalrates XXII. GP, zit: öStPRG-RV). Dieses Gesetz setzt sich - als vorläufiger Schlusspunkt einer jahrzehntelangen Diskussion - zum Ziel, kriminalpolizeiliche Aufgaben und Befugnisse ebenso wie die Rechte der von der Ausübung dieser Befugnisse betroffenen Personen in der (österreichischen) Straf-
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prozessordnung eindeutig zu regeln. Primär angestrebt ist die Verbesserung des Rechtsschutzstandards für die betroffenen Bürgerinnen und Bürger (sowohl als Beschuldigte als auch als Opfer einer Straftat). Die wesentliche Auseinandersetzung mit den bezughabenden Bestimmungen dieser österreichischen Novelle wurde zwar dem in Bearbeitung stehenden Vernehmlassungsbericht über ein liechtensteinisches Opferhilfegesetz vorbehalten; jene Bestimmungen, deren Übernahme in die liechtensteinische Rechtsordnung nunmehr mit dem gegenständlichen Bericht und Antrag geplant ist und die mit dem (österreichischen) Strafprozessreformgesetz eine wesentliche Änderung erfahren sollen, wurden jedoch auch unter diesem Aspekt geprüft und bei besonders schutzwürdigen Interessen teilweise schon jetzt in den vorliegenden Bericht eingearbeitet.
Berücksichtigt wurden darüber hinaus europarechtliche Initiativen, wie insbesondere der Rahmenbeschluss des Rates vom 15. März 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren (Amtsblatt Nr. L 082 vom 22.3.2001, S. 0001-0004, zit: EU-Rahmenbeschluss). Obwohl Liechtenstein nicht Mitglied der Europäischen Union ist, empfiehlt es sich, die einschlägigen Bestimmungen des Rahmenbeschlusses im Sinne "korrespondierender Rechtsordnungen" im Auge zu behalten, da die Mitgliedstaaten der Europäischen Union mit einer gestaffelten Umsetzungsverpflichtung bis März 2006 ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften soweit anzugleichen haben, als dies für die Erreichung des Ziels erforderlich ist, Opfern von Straftaten unabhängig davon, in welchem Land sie sich aufhalten, ein hohes Schutzniveau zu bieten.
Viele Bestimmungen der gegenständlichen Vorlage verfolgen u.a. den Schutz und die Schonung der Opfer von Sexualdelikten und Gewaltdelikten im familiären Nahraum. Ein Grossteil der von diesen Delikten betroffenen Personen sind Frauen und Mädchen. Sie sollen auch in der Sprache sichtbar gemacht werden und nicht bloss von den männlichen Begriffen "mitgemeint" sein. Die Verwendung eines geschlechtergerechten Sprachgebrauchs kam im Rahmen des Gesetzestextes im Hinblick auf die blosse Teilnovellierung und die zu wahrende Einheitlichkeit der
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StPO nicht in Betracht. Im Rahmen der Erläuterungen wurden jedoch die Formulierungen so gewählt, dass sie Frauen und Männer gleichermassen betreffen; Bezeichnungen wurden geschlechtsneutral gefasst oder die weibliche und die männliche Form angeführt - so wie es auch die Empfehlung des Ministerratskomitees des Europarats vom 21. Februar 1990, Nr. R (90) 4 vorsieht (vgl. auch Handbuch der Rechtssetzungstechnik, Teil 1: Legistische Richtlinien, öBKA (Hrsg.), 1990;
Smutny/Mayr, österr. Gleichbehandlungsgesetz, ÖGB-Verlag, Wien [2001] 79, 361 ff mwN.). Im neu zu schaffenden Opferhilfegesetz soll hingegen konsequent eine geschlechtsneutrale Sprache verwendet werden.