Stellungnahme der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein
zu den anlässlich der ersten Lesung betreffend die Abänderung der Strafprozessordnung, des Strafgesetzbuches und des Jugendgerichtsgesetzes aufgeworfenen Fragen
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Anlässlich der ersten Lesung des Bericht und Antrags betreffend die Abänderung der Strafprozessordnung, des Strafgesetzbuches und des Jugendgerichtsgesetzes am 24. Mai 2012 hat der Landtag die darin enthaltenen Regierungsvorlagen ausdrücklich begrüsst. Im Rahmen der ersten Lesung wurden bezüglich dieser Regierungsvorlagen weder Fragen gestellt noch Änderungswünsche vorgebracht.
Im Eintretensvotum hat allerdings eine Landtagsabgeordnete ersucht, bezüglich der mit LGBl. 2012 Nr. 26 eingeführten Bestimmung von § 108 Abs. 3 StPO abzuklären, ob eine Angleichung des Gesetzestextes an die österreichische Rezeptionsvorlage von § 157 Abs. 2 öStPO möglich wäre.
Zuständiges Ressort
Ressort Justiz
Betroffene Stellen und Institutionen
Staatsanwaltschaft, Landgericht, Obergericht, Oberster Gerichtshof, Landespolizei, Rechtsanwaltskammer
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Vaduz, 29. Mai 2012
RA 2012/1125
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,
Sehr geehrte Frauen und Herren Abgeordnete
Die Regierung gestattet sich, dem Hohen Landtag nachstehende Stellungnahme zu den anlässlich der ersten Lesung betreffend die Abänderung der Strafprozessordnung, des Strafgesetzbuches und des Jugendgerichtsgesetzes (BuA Nr. 44/2012) aufgeworfenen Fragen zu unterbreiten.
In seiner Sitzung vom 24. Mai 2012 hat der Landtag die Regierungsvorlage zur Abänderung der Strafprozessordnung, des Strafgesetzbuches und des Jugendgerichtsgesetzes in erster Lesung beraten. Das Eintreten war unbestritten.
Im Rahmen der Eintretensdebatte wurde darauf hingewiesen, dass im Rahmen der Schulungen bezüglich der StPO-Reform, die am 1. Oktober 2012 in Kraft treten wird, Mängel ersichtlich wurden, die mit der gegenständlichen Vorlage beseitigt werden. Angesichts dessen wurden die vorgeschlagenen Änderungen begrüsst und als sinnvoll erachtet; Fragen und Anmerkungen zu den Regierungsvorlagen wurden keine vorgebracht.
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Allerdings hat eine Landtagsabgeordnete ersucht, bezüglich der mit LGBl. 2012 Nr. 26 eingeführten Bestimmung von § 108 Abs. 3 StPO abzuklären, ob eine Angleichung des Gesetzestextes an die österreichische Rezeptionsvorlage von § 157 Abs. 2 öStPO möglich wäre.
Die Regierung hält hierzu Folgendes fest:
§ 108 Abs. 3 StPO wurde sowohl in der vormals eingesetzten Arbeitsgruppe zur StPO-Reform als auch im Landtag eingehend diskutiert.
Im Bericht und Antrag Nr. 64/2011 wurde zu § 108 Abs. 3 StPO wie folgt ausgeführt (S. 114 unten bis S. 115 oben):
"... Ausserdem darf das Recht, die Aussage zu verweigern, nicht durch Beschlagnahme, Durchsuchung oder andere Untersuchungsmassnahmen umgangen werden. Jedoch gilt im Sinne der bisherigen Rechtsauffassung das Beschlagnahmeverbot nur für solche Beweisgegenstände, die durch das Betreuungsverhältnis neu geschaffen werde.n. Bestehende Urkunden oder Informations- und Datenträger, die etwa dem Verteidiger vom Mandanten übergeben werden, unterliegen durchaus der Beschlagnahme..."
In der Stellungnahme der Regierung Nr. 126/2011 wurde wiederum Folgendes ausgeführt (S. 39 bis S. 41 oben):
"Ein Abgeordneter führte aus, dass gemäss Abs. 3 das Recht, die Aussage zu verweigern, nicht durch Beschlagnahme, Durchsuchung oder andere Untersuchungsmassnahmen bei sonstiger Nichtigkeit umgangen werden dürften. Im Bericht und Antrag werde ausgeführt, dass das Beschlagnahmeverbot nur für solche Beweisgegenstände gelte, die durch das Betreuungsverhältnis neu geschaffen worden sind. Bestehende Urkunden oder Informations- oder Datenträger, die etwa dem Verteidiger vom Mandanten übergeben werden, unterlägen durchaus der Beschlagnahme. Die herrschende Praxis in Österreich und des EGMR gehe diesbezüglich wesentlich weiter und umfasse auch vorbestehende Dokumente, die der Rechtssuchende seinem Verteidiger oder Rechtsanwalt anvertraut habe und die vertraulich seien und noch nicht öffentlich zugänglich gemacht worden seien. Das Umgehungsverbot gelte insbesondere für die
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Anwaltskorrespondenz, die sich beim Beschuldigten - dem Klienten des Rechtsanwaltes - oder beim Verteidiger zu Hause befinde. Diese Unterlagen dürften nicht beschlagnahmt werden, weil sonst indirekt das Entschlagungsrecht des Rechtsanwalts oder des Verteidigers unterwandert werde. Das Umgehungsverbot betreffe sogar Anwaltskorrespondenz, die ein Klient in einem Banksafe aufbewahrt habe. Der Abgeordnete ersuchte um Prüfung dieser Thematik.
Indem sich das Zeugnisverweigerungsrecht darauf bezieht, was dem Verteidiger, Rechtsanwalt, Rechtsagent, Patentanwalt oder Wirtschaftsprüfer in dieser Eigenschaft bekannt geworden ist, deckt es sich - auch nach herrschender Rechtsprechung zur österreichischen Rezeptionsvorlage - gezielt mit der beruflichen Verschwiegenheitspflicht. Erfasst werden Informationen, die der Mandant seinem Verteidiger etc. gibt; Mitteilungen Dritter, die dem Verteidiger etc. in seiner beruflichen Funktion anvertraut wurden; und Informationen, die der Verteidiger etc. in dieser Eigenschaft erlangt. Entscheidend ist demnach die Kenntnisnahme in der Eigenschaft als Verteidiger, Rechtsanwalt, Rechtsagent, Wirtschaftsprüfer oder Patentanwalt. Bei den Berufsgeheimnisträgern ist also das Zeugnisverweigerungsrecht auf die bei der Berufsausübung bekanntgewordenen Tatsachen begrenzt, somit auf Umstände, die ihnen bei Tätigkeiten, die sie bei der Berufsausübung regelmässig zu verrichten haben oder sonst in unmittelbarem Bezug dazu stehen, zur Kenntnis gelangen.
Stellt man also darauf ab, dass die ausgetauschte Information geschützt ist, so kommt es nicht darauf an, wo sie sich befindet. Eine Beschlagnahme eines Anwaltsbriefs im Safe des Beschuldigten wäre demnach als Verstoss gegen das Umgehungsverbot zu werten. Dies entspricht auch der Judikatur der österreichischen Höchstgerichte und des EGMR.
§ 108 Abs. 1 Ziff. 2 (und Ziff. 3) StPO hat nicht die Immunisierung von Beweisstücken zum Inhalt. Werden Beweisstücke vom Klienten beim Rechtsanwalt, Verteidiger, Patentanwalt oder Wirtschaftsprüfer hinterlegt, unterliegen diese nicht dem Umgehungsverbot. Sie können daher auch beim Parteienvertreter beschlagnahmt werden."
Richtig ist, dass die gegenständliche Beschränkung des Umgehungsverbotes in § 108 Abs. 3 StPO (
"... die durch das Betreuungsverhältnis neu geschaffen wur-8
den...") in der Rezeptionsvorlage, nämlich in § 157 Abs. 2 öStPO, nicht enthalten ist. Mit der gegenständlichen Formulierung wird allerdings nur die - auch in der Stellungnahme der Regierung Nr. 126/2011 erwähnte (S. 40 bis S. 41) - ständige Rechtsprechung in Österreich ausdrücklich gesetzlich festgeschrieben. Dies wurde zudem in der Arbeitsgruppe vorgängig ausführlich diskutiert.
Diese ausdrückliche gesetzliche Regelung wurde auch im Landtag eingehend diskutiert (siehe Ausführungen oben in Bezug auf die Stellungnahme der Regierung Nr. 126/2011, S. 39 bis S. 41).
Es liegt daher diesbezüglich - im Gegensatz zu den anderen Änderungen im Bericht und Antrag Nr. 44/2012 - kein praxisbezogener Mangel vor. Eine Änderung der Bestimmung im Sinne des Vorbringens der Abgeordneten würde eine - gerade nicht beabsichtigte - inhaltliche Änderung der StPO-Reform bedeuten.
Wie wichtig und sinnvoll die gegenständliche ausdrückliche gesetzliche Beschränkung des Umgehungsverbotes ist, ergibt sich auch aus der öffentlichen Kritik in den deutschsprachigen Medien an der Entscheidung des Fürstlichen Obergerichtes in einem aktuellen Verfahren. Darin wurde hinsichtlich von bei einem Wirtschaftsprüfer beschlagnahmten Beweisstücken ein - von der ständigen Rechtsprechung in Österreich nicht gedecktes - umfassendes Umgehungsverbot angenommen, das zu einer - gerade nicht beabsichtigten - Immunisierung dieser Beweisstücke geführt hätte.
Der Fürstliche Oberste Gerichtshof hat im drittinstanzlichen Verfahren im Sinne der ständigen Rechtsprechung in Österreich - und damit auch des § 108 Abs. 3 StPO idF LGBl. 2012 Nr.26 - diese Entscheidung des Fürstlichen Obergerichtes abgeändert. Der Fürstliche Oberste Gerichtshof hat in der Begründung dieser Entscheidung auch ausdrücklich auf die diesbezüglichen Ausführungen im Bericht
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und Antrag Nr. 64/2011 und in der Stellungnahme der Regierung Nr. 126/2011 verwiesen.
Da nicht ausgeschlossen ist, dass sich auch der Staatsgerichtshof mit dieser Thematik befassen wird, vertritt die Regierung die Ansicht, dass zunächst der Abschluss dieses Verfahrens abgewartet werden sollte, um danach über einen allfälligen Anpassungsbedarf von § 108 Abs. 3 StPO an den Wortlaut der österreichischen Rezeptionsvorlage zu entscheiden.