Bericht und Antrag der Regierung an den Landtag des Fürstentums Liechtenstein
betreffend das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention)
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Mit dem vorliegenden Bericht und Antrag unterbreitet die Regierung dem Landtag das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention; UNO-BRK). Die Behindertenrechtskonvention ist das erste völkerrechtlich verbindliche Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rechte von Menschen mit Behinderungen. Die Konvention reagiert darauf, dass behinderte Menschen in ihrem Alltag nach wie vor auf Barrieren und Vorurteile stossen. Das Übereinkommen verbietet sämtliche Formen der Diskriminierung und fördert die nachhaltige Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen.
Das Übereinkommen geht von einer breiten und kontextabhängigen Definition von Behinderungen aus. So zählen zu Menschen mit Behinderungen alle Menschen, die aufgrund langfristiger geistiger, körperlicher, seelischer oder Sinnesbeeinträchtigungen, und in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren, nicht gleichberechtigt an der Gesellschaft teilnehmen können. Laut Schätzungen der Vereinten Nationen leben nach dieser Definition rund 10% der Weltbevölkerung mit einer Behinderung. Zu Liechtenstein gibt es keine verlässlichen Zahlen. Gemäss einer Studie des Liechtenstein-Instituts zur Lage von Menschen mit Behinderungen aus dem Jahr 2007 kann angenommen werden, dass bis zu 6'000 Menschen in Liechtenstein eine Behinderung aufweisen, knapp 2'000 davon eine schwere Behinderung.
Ziel des Übereinkommens ist die Wahrung der grundlegenden Menschenrechte von behinderten Menschen. Die Behindertenrechtskonvention garantiert unter anderem das gleiche Recht auf Bildung, Gesundheit und Arbeit, den barrierefreien Zugang zu Dienstleistungen, Informations- und Kommunikationstechnologien sowie zur Justiz, die Rechts- und Handlungsfähigkeit in allen Lebensbereichen, das aktive und passive Wahlrecht sowie den Schutz vor Mehrfachdiskriminierung, Gewalt und Ausbeutung. Dabei schafft die Behindertenrechtskonvention keine Sonderrechte, sondern garantiert und konkretisiert die Anwendung von bestehenden Menschenrechtskonventionen auf Menschen mit Behinderungen.
Gemäss Konvention sind die Vertragsstaaten verpflichtet, dem zuständigen Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen regelmässig
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Staatenberichte vorzulegen. Der Vertragsausschuss prüft als Kontrollorgan die Berichte und ist berechtigt, Stellungnahmen und Empfehlungen zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in den Vertragsstaaten abzugeben.
Die Behindertenrechtskonvention wurde am 13. Dezember 2006 verabschiedet und ist am 3. Mai 2008 in Kraft getreten. Bislang haben 186 Staaten und die Europäische Union die Konvention ratifiziert; 164 Staaten haben sie unterzeichnet (Stand 15. September 2023). Liechtenstein hat die Konvention am 8. September 2020 unterzeichnet. Die Ratifikation trägt dem Anliegen Rechnung, die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in Liechtenstein zu stärken. Überdies steht die Ratifikation im Einklang mit der liechtensteinischen Aussenpolitik, welche dem Schutz der Menschenrechte eine zentrale Bedeutung beimisst.
Die liechtensteinische Rechtsordnung genügt den Anforderungen des Übereinkommens weitestgehend. Die zentrale Rechtsgrundlage bildet dabei das im Jahr 2007 in Kraft getretene Gesetz über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (BGIG). Zur konventionskonformen Umsetzung der Behindertenrechtskonvention bedarf es einiger Gesetzesanpassungen. Anlässlich der Ratifikation sollen zeitgleich mit dem vorliegenden Bericht und Antrag notwendige Änderungen des Gesetzes über das gerichtliche Verfahren in Rechtsangelegenheiten ausser Streitsachen (Ausserstreitgesetz; AussStrgG), des Gesetzes über den Verein für Menschenrechte in Liechtenstein (VMRG), des Statistikgesetzes (StatG) sowie des Gesetzes über die Information der Bevölkerung (Informationsgesetz) vorgenommen werden (Bericht und Antrag 74/2004). Anpassungen im Bereich der Handlungsfähigkeit und des Sachwalterrechts und des Massnahmenvollzugs sollen mittel- bis langfristig im Rahmen von anderweitig geplanten Gesetzesreformen durchgeführt werden. Diese Reformen sind aus Sicht einer konventionskonformen Umsetzung der Behindertenrechtskonvention zwar notwendig, aber innert nützlicher Frist nicht durchführbar.
Zuständiges Ministerium
Ministerium für Äusseres, Bildung und Sport (federführend)
Ministerium für Präsidiales und Finanzen
Ministerium für Inneres, Wirtschaft und Umwelt
Ministerium für Infrastruktur und Justiz
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Ministerium für Gesellschaft und Kultur
Betroffene Stellen
Amt für Auswärtige Angelegenheiten
Amt für Justiz
Amt für Soziale Dienste
Amt für Statistik
Amt für Berufsbildung und Berufsberatung
Amt für Gesundheit
Amt für Hochbau und Raumplanung
Amt für Strassenverkehr
Amt für Tiefbau und Geoinformation
Amt für Volkswirtschaft
Ausländer- und Passamt
Datenschutzstelle
Schulamt
Stabstelle für Sport
Stabstelle für staatliche Liegenschaften
Landespolizei
Staatsanwaltschaft
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Vaduz, 3. Oktober 2023
LNR 2023-1520
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Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,
Sehr geehrte Frauen und Herren Abgeordnete
Die Regierung gestattet sich, dem Hohen Landtag nachstehenden Bericht und Antrag betreffend das Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen an den Landtag zu unterbreiten.
Das Übereinkommen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Behindertenrechtskonvention; UNO-BRK) stellt ein wichtiges Instrument dar, um gegen die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichen vorzugehen und ihre selbstständige Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu fördern.
Die UNO-BRK steht auf internationaler Ebene für die konsequente Weiterentwicklung von Bestrebungen, Menschen mit Behinderungen in den vollen Genuss der Menschenrechte kommen zu lassen. Während das "Weltaktionsprogramm für Menschen mit Behinderungen" (1982) und die "Rahmenbestimmungen für die
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Herstellung der Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen" (1993) der UNO rechtlich noch nicht verbindlich waren, unterstreicht die UNO-BRK den menschenrechtlichen Charakter des Anspruchs von Menschen mit Behinderungen auf Gleichbehandlung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Zwar gelten bereits die Menschenrechtsverträge der UNO für jeden Menschen, einschliesslich der Menschen mit Behinderungen. Eine von der UNO in Auftrag gegebene Studie kam jedoch zu dem Schluss, dass die Vertragsstaaten und die UNO-Vertragsorgane die besondere Menschenrechtssituation von Menschen mit Behinderungen nur ungenügend beachten. Bei der innerstaatlichen Umsetzung von Menschenrechtsverträgen würden Menschen mit Behinderungen zudem nicht oder nur in sozial- und gesundheitspolitischen Zusammenhängen berücksichtigt.
Die fehlende Thematisierung von Behinderung im Kontext der Menschenrechte ist vor allem auf ein Verständnis von Behinderung zurückzuführen, welches eine Behinderung ausschliesslich als individuelles Lebensbewältigungsproblem betrachtete. Erst Mitte der 1960er-Jahre setzte ein Prozess ein, der zu einem Verständnis von Behinderung als Zusammenwirken von individuellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen führte. Damit setzte sich auch die Erkenntnis durch, dass die - nach wie vor wichtigen - medizinischen und sozialen Massnahmen, die auf die Behebung oder Kompensation von individuellen Beeinträchtigungen abzielen, durch menschenrechtliche Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen ergänzt werden müssen.
Die UNO-Generalversammlung entschied vor diesem Hintergrund mit ihrer Resolution vom 19. Dezember 2001 ein Ad-Hoc-Komitee einzurichten, das Vorschläge für ein umfassendes und in sich geschlossenes internationales Übereinkommen zur Förderung und zum Schutz der Rechte und der Würde von Menschen mit Behinderungen erwägen sollte. Gestützt auf die Vorarbeiten einer Arbeitsgruppe
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erarbeitete das Komitee unter Einbezug von Betroffenen bis Ende August 2006 den Entwurf des Übereinkommens und des dazugehörigen Fakultativprotokolls.
Die Generalversammlung nahm am 13. Dezember 2006 den Text des Übereinkommens und des Fakultativprotokolls an. Am 30. März 2007 wurden beide Dokumente in New York den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen zur Unterzeichnung und Ratifikation aufgelegt. Das Übereinkommen ist am 3. Mai 2008 nach der zwanzigsten Ratifikation in Kraft getreten und bislang von 164 Staaten unterzeichnet und von 187 Staaten (inkl. der EU) ratifiziert worden (Stand 15. September 2023). Österreich ratifizierte das Übereinkommen am 26. September 2008, Deutschland am 24. Februar 2009 und die Schweiz am 15. April 2014.
Das Übereinkommen ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der bereits bestehende Menschenrechte für die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen konkretisiert. Ziel des Übereinkommens ist, die Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen zu fördern und ihre Diskriminierung in der Gesellschaft zu unterbinden. Die Vertragsstaaten sind verpflichtet, dem zuständigen Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in einem regelmässigen Turnus Staatenberichte vorzulegen. Der Vertragsausschuss prüft als Kontrollorgan die Berichte und ist berechtigt, Stellungnahmen und Empfehlungen zur Umsetzung der UNO-BRK in den Vertragsstaaten abzugeben.
Das gleichzeitig mit dem Übereinkommen verabschiedete Fakultativprotokoll (
Optional Protocol to the Convention on the Rights of Persons with Disabilities) sieht vor, dass der Vertragsausschuss individuelle Mitteilungen prüfen und Untersuchungsverfahren durchführen kann. Das Fakultativprotokoll ist ein eigenständiger völkerrechtlicher Vertrag. Es wurde bislang von 105 Staaten ratifiziert und von 94 Staaten unterzeichnet (Stand 15. September 2023) und ist am 3. Mai 2008 nach Art. 13 des Fakultativprotokolls in Kraft getreten. Österreich und Deutschland sind -
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Vertragsparteien des Protokolls. Die Schweiz hat dieses bisher weder unterzeichnet noch ratifiziert.
Liechtenstein hatte sich aktiv an den Verhandlungen zum Übereinkommen sowie an den Vorbereitungsarbeiten beteiligt. Bei den stockenden Verhandlungen zum Fakultativprotokoll verhalf ein von Liechtenstein mitentworfener Kompromiss zum Verhandlungsdurchbruch. Die Regierung wird eine mögliche Unterzeichnung und Ratifizierung des Fakultativprotokolls zu einem späteren Zeitpunkt beurteilen, nachdem Liechtenstein erste Erfahrungen über die Praxis des Vertragsorgans gesammelt hat.
In Vorbereitung für die Ratifikation des Übereinkommens organisierte die Regierung zwei nationale Konferenzen, an denen die von der Umsetzung tangierten Institutionen sowie die involvierten Amtsstellen mitwirkten. Die erste nationale Konferenz im September 2018 setzte sich zum Ziel, die für eine konventionskonforme Umsetzung nötigen gesetzlichen Anpassungen und allfälligen Vorbehalte zu diskutieren. Basierend auf diesem Austausch gab die Regierung ein Gutachten zu den rechtlichen Implikationen der UNO-BRK für Liechtenstein in Auftrag. Das von der rechtwissenschaftlichen Fakultät Innsbruck erstellte Gutachten wurde im Rahmen der zweiten nationalen Konferenz im Februar 2020 vorgestellt.
1 Im Rahmen dieser Konferenz sind 13 Stellungnahmen von Institutionen eingegangen, welche die Ratifikation der UNO-BRK allesamt begrüssen. Entsprechend den positiven Rückmeldungen wurde das Übereinkommen am 8. September 2020 unterzeichnet. Anschliessend wurde das Amt für Auswärtige Angelegenheiten beauftragt, einen Zeitplan betreffend die weitere Vorgehensweise auszuarbeiten und die erforderlichen Schritte hinsichtlich der internen Koordination einzuleiten.
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1 | Michael Ganner/Andreas Müller/Caroline Voithofer, "Rechtliche Implikationen einer Ratifikation der UN-Behindertenrechtskonvention für Liechtenstein", Innsbruck, 30. September 2019, abrufbar unter [https://www.regierung.li/files/attachments/Gutachten-Liechtenstein-UNBRK-28-10.pdf?nid=14176&groupnr=14176&lang=de]. |
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